Aktien, Inflation und Kursrekorde: Halten oder verkaufen?

10. Mai 2022

Auf einen Blick:

  • Anleger könnten steigende Inflation und Kursrekorde als Zeichen interpretieren, dass sie ihr Portfolio umstellen sollten.
  • Die Wissenschaft hat zahlreiche Timing-Strategien untersucht, in denen als Entscheidungskriterien unter anderem Unternehmensgewinne, Dividenden, Zinsen und Wirtschaftswachstumsraten zum Einsatz kommen.
  • Wie jedoch ein aktueller Morningstar-Bericht zeigt, sollten Anleger taktische Allokationsstrategien und kurzfristige Gewichtungsanpassungen einzelner Assetklassen lieber vermeiden.

 

Nach Rekordständen zu Jahresbeginn sind die Kurse am Aktienmarkt eingebrochen, in der Finanzpresse konnten Anleger beunruhigende Schlagzeilen lesen:

„Inflation auf dem höchsten Stand seit 1982“
—Gwynn Guilford, Wall Street Journal, 13. Januar 2022

„Volkswirte senken Wachstumsprognosen, die Risiken steigen“
—Harriett Torry and Anthony DeBarros, Wall Street Journal, 18. Januar 2022

„Heftige Kursschwankungen, der Bärenmarkt ist da“
—Gunjan Banerji and Peter Santilli, Wall Street Journal, 18. Januar 2022

„Kurse fallen in turbulentem Handel“
—Gunjan Banerji and Will Horner, Wall Street Journal, 26. Januar 2022

„Zinserhöhung ab März ist beschlossene Sache“
—Nick Timiraos, Wall Street Journal, 27. Januar 2022

 

Ist steigende Inflation schlecht für Aktien?
Sind Kurseinbrüche einzelner populärer Aktien Vorboten eines größeren Abschwungs?
Was Anleger wirklich meinen:
Sollte ich etwas an meinem Portfolio verändern?

Jede dieser Fragen ist aber einfach nur eine andere Version der Timing-Frage in neuem Gewand. Sollte ich meine Aktien verkaufen und zurückkaufen, wenn die Kurse weit genug gefallen sind?

Man kann diese Frage auch anders formulieren: Können wir klare Regeln definieren, die uns sagen, wann wir Aktien kaufen, verkaufen oder halten sollten, wann wir unsere Fehler eingestehen sollten usw.?

 

Gut im Gedächtnis geblieben ist vielleicht manchem unter anderem das sogenannte Hindenburg-Omen, das im Jahr 2010 für einen kurzen Moment Berühmtheit erlangte.  Entwickelt wurde dieser Börsenindikator von einem blinden Mathematiker und ehemaligen Physiklehrer, der seine Erfindung nach dem deutschen Zeppelin benannte, der 1937 vor New York abstürzte. Nach dem Hindenburg-Omen steht dann ein Kursrückgang bevor, wenn mehrere Indikatoren der 52-Wochen-Höchst- bzw. Tiefstkurse und gleitende Durchschnitte ins Minus drehen. Die Abschwünge der Jahre 1987 und 2008 konnte der Indikator richtig vorhersagen und als er am 12. August 2010 ein Verkaufssignal auslöste, entflammten am nächsten Tag (einem Freitag, dem 13.) in Internet-Chatrooms und an den Trading Desks der Wall Street aufgeregte Gespräche über einen drohenden Crash, wie das Wall Street Journal berichtete.  Doch der Crash blieb aus, stattdessen beendete der S&P 500 Index den September mit der höchsten Rendite seit 1939.

Vermögensverwaltung ist eine hart umkämpfte Branche, Anleger finden inzwischen mehr Aktienfonds und ETFs als Aktien selbst. Wenn jemand eine rentable Timing-Strategie entwickeln könnte, sollte man erwarten, dass einige Fonds diese mit Erfolg einsetzen. Ein aktueller Bericht von Morningstar legt jedoch nahe, dass Anleger sich vor Fondsmanagern in Acht nehmen sollten, die eine solche Erfolgsformel für sich in Anspruch nehmen. Der Bericht untersucht die Anlageergebnisse von zwei Arten von Aktien-bzw.Anleihe-Mischfonds:

 

  • Balanced:Fonds, die ihre Aktienallokation nur geringfügig anpassen.
  • Tactical Asset Allocation:Fonds, die ihre Allokation zu Aktien regelmäßig verändern.

 

Insgesamt erzielten diejenigen Fonds schlechtere Ergebnisse, die durch taktische Gewichtungsanpassungen ihrer Aktien und Anleihepositionen eigentlich bessere Ergebnisse anstreben. Fonds mit einer eher statischen Aktien-bzw.Anleihe-Gewichtung schnitten besser ab. In dem Bericht weist Morningstar zudem darauf hin, dass die Zahlen noch schlechter ausfallen würden, würden auch liquidierte Fonds in die Berechnung einfließen. Die Schlussfolgerung der Autoren: „Der Misserfolg taktischer Asset-Allocation-Fonds legt den Schluss nahe, dass Anleger nicht nur taktische Anlagestrategien vermeiden sollten, sondern auch kurzfristige Gewichtungsveränderungen in ihren eigenen Portfolios.

 

Diese Ergebnisse sollten niemanden überraschen, denn damit eine Timing-Strategie funktioniert, muss man zweimal richtig liegen – wenn man die Aktienposition reduziert und wenn man sie wieder ausbaut. Niemand sieht gerne, wie sein Portfolio in einem rückläufigen Markt an Wert verliert. Wenn Anleger jedoch Linderung suchen, indem sie vorübergehend von ihrer langfristigen Strategie abrücken, tauschen sie am Ende womöglich nur eine Sorge gegen eine andere. Kurserholungen in Tiefständen setzen häufig überraschend ein, und Anleger tun sich außerordentlich schwer, Aktien zu kaufen, die einige Wochen zuvor noch deutlich günstiger waren. Durch falsches Timing drohen erhebliche Opportunitätskosten:

Hätte man, rein hypothetisch, in den 25 Jahren bis 2021 100.000 Euro in die Aktien des Russell 3000 Index investiert, hätte man am Ende 1.036.694 Euro erhalten. Hätte man in diesem Zeitraum jedoch auch nur die besten aufeinanderfolgenden 90 Handelstage (die 90 Tage bis 22. Juni 2020) verpasst, hätten sich alarmierende 33% dieser Rendite einfach in Luft aufgelöst.

Rechnet man jetzt noch die wahrscheinlich höheren Transaktionskosten und mögliche steuerliche Belastungen durch kurzfristigen Handel hinzu, sinkt die Erfolgswahrscheinlichkeit von Timing-Strategien weiter.

Ein kluger Anlageberater hat ein Portfolio mit einem Stück Seife verglichen:

„Je mehr man es anfasst, desto weniger bleibt übrig.“